Manchmal nehme ich mir einen kleinen Moment Zeit und denke darüber nach, wie cool es eigentlich ist, im 21. Jahrhundert zu leben. Klar, ich bin jetzt kein Fan von der Klimaerwärmung und weiß auf jeden Fall, dass es beim Thema Demokratie noch an einigen Orten einige Luft nach oben gibt. Aber trotzdem liebe ich die Vorzüge der heutigen Zeit. Mit Google Maps finde ich mich, ohne Sprache oder Alphabet zu beherrschen, in Kiew zurecht. Über Zoom habe ich Vorstellungsgespräche von Zuhause und über Facebook regelmäßigen Kontakt zu meinen Freunden, die in einer anderen Stadt, einem anderen Land und teilweise sogar auf einem anderen Kontinent leben. Und durch Couchsurfing und Food-Sharing kann ich quasi kostenlos essen und reisen.
Die sogenannte »Sharing Economy« ist in der 2010er Jahren zum geflügelten Wort geworden. Mittlerweile gibt’s hunderte solcher wir-teilen-was-wir-haben-Angebote: Housesitting in Frankreich, Wwoofing in Neuseeland, Urlaub gegen Hand in den Mittelfranken. Muss ich das noch erklären?
Urlaub gegen Hand?
Einen Monat, na ja oder sagen wir zweieinhalb Wochen, in einer 2-Zimmer-Wohnung wohnen, täglich Feuer machen, im Wald vor der Haustür spazieren gehen und bekocht werden. Alles kostenlos. Was klingt wie ein kleiner Traum, war für mich im Dezember glückliche Realität. Dankbar möglich gemacht durch die Facebook-Gruppe »Urlaub gegen Hand«.
Von Urlaub gegen Hand hörte ich zum ersten Mal in Trier. Eine Bekannte aus Berlin, Lena, die eigentlich aus dieser ältesten Stadt Deutschlands kommt und zufälligerweise auf Elternbesuch war, erzählte mir von der Gruppe, als ich über das WG-Dorf-Dilemma klagte. Fand ich gut. Barfußschuhe-Jonas hatte dann ein paar Tage später die gleiche Idee, was mich wieder skeptisch werden ließ – steckt dahinter vielleicht doch eher einen kleiner Eso-Verein? Oder was sonst begeistert einen Corona-Zweifler mit Schafsfell-Weste? Erst, als mein lieber Cenin dann (als dritte (!) Person in Trier) auch davon anfing, war ich einigermaßen überredet. Angemeldet. Posting gemacht. Manuela kennen gelernt. Glücksgriff gehabt.
Das Gerücht der peinlichen Stille
Als mich Manuela drei Wochen später vom Bahnhof abholt, fragt sie, ob wir uns umarmen wollen. Die potenzielle Stille, die danach im Auto herrschen könnte wenn zwei fremde Menschen zusammen nach Hause fahren, füllt sie mit… ja, mit was eigentlich? Dass sie als Jugendliche diese 10km Bahnhof-Zuhause manchmal zu Fuß gehen musste. Dass der Peter gerade dabei sei, ihre Website zu renovieren. Und dass wir heute, an einem Samstag, erstmal ganz ruhig machen. Das heißt: Kaffee und Nürnberger Lebkuchen (die wirklich viel besser schmecken als woanders) – willkommen in den Mittelfranken.
Generell fahren wir viel Auto, Manuela und ich. So ist das eben, auf’m Dorf. Sie fährt, ich höre zu. Die besten Gespräche hat man eben in der Küche oder im Auto. Ich genieße das sehr: sitzen, gucken, reden.
Der Deal von Urlaub gegen Hand gleicht dem Wwoofing-Prinzip. Das heißt, ich arbeite ein wenig, dafür gibt’s Kost und Logie umsonst. Bei Manuela besteht meine (wirklich nicht sehr komplexe) Aufgabe darin, die Schränke ihrer verstorbenen Eltern auszuräumen. Und auch wenn das am Ende mehr als 25 Bananenkartons mit Kleidung ergibt, ist das wohl doch eine sehr machbare Aufgabe. Meine Oma ist auch im Frühjahr verstorben. Allerdings ist das Schränke ausräumen bei einer fremden Person doch nochmal was ganz anderes. Eher so wie im Second Hand Laden stöbern. Und vor allen Dingen ohne, dass die ganze Zeit irgendwelche Kindheitserinnerung aufflackern. Die Kisten mit den mittlerweile wieder modernen Klamotten haben wir anschließend übrigens zum Regenbogen e.V. gebracht. Die sortieren und spenden oder verkaufen das Zeug.
Draußen arbeiten
Die restliche Zeit verbringen wir mit Gartenarbeit. »Im Dezember???«, mögen verehrte Leser*innen nun fragen. Yes, oh, yes, oh, yes, Eureka! Laub harken, Trecker fahren, Hochbeet umgraben. Trecker fahren? Darf ich, darf ich, darf ich? Als absolutes Stadtkind kenne ich Trecker so gut wie nur von meinem Playmobil-Bauernhof der Kindheit und meinem früheren Traumberuf der Bäuerin. Manuela schmunzelt in sich hinein. Sie selbst saß im zarten Alter von acht das erste Mal auf so einem Teil. Schließlich brauchten die Eltern für die Kartoffelernte ja alle verfügbaren Hände. Meine Eltern hatten keine Kartoffeln. Dafür nimmt mich Peter jetzt einmal mit in den Wald. Ich darf fahren. Und konstatiere: das ist richtig, richtig geil. Macht unglaublich Spaß. Ich fühle: Freiheit. Natur. Es gibt ja keine richtigen Scheiben oder sonst einen Komfort, der verbirgt, dass ich gerade dieses japsenden Ding mit 10km/h durch den Wald schiebe. Aber auch: Kraft. Stärke. Größe. Verwerflich? Ja. Aber leider geil.
Aber was will man dann eigentlich mit einem Trecker im Wald? Einfache Frage, einfache Antwort: Gartenabfälle wegbringen. Diese kommen nämlich nicht alle in die Biotonne, da die läuft sonst nämlich überläuft. Und wenn Laub und Äste dann zwischen den Bäumen liegen, freuen sich auch kleine Kleintiere und Insekten. Und das ist dann auch für den Wald wieder gut.
laub schaufeln im birkenwald eigener wald – ein unbeschreibliches gefühl ein traum geht in erfüllung
Noch echte Probleme
Neben Streuobstwiese und gut anderthalb Hektarn Kiefernwald bestellen Manuela und Peter auch einen Birkenwald. Den haben sie 2008 selber gepflanzt. Mir wird klar, wie sehr Stadtkind ich bin, als ich staune, dass man einfach so eine Fläche kaufen und sie mit Bäumen bepflanzen darf. Und warum Birke? Sieht nicht nur schön aus, sondern verkauft sich auch gut. Und die Blätter kann man trocknen und zu Tee aufkochen – Peters Lieblingstee.
Die Hektar Kiefernwald dienen zur Holzwirtschaft, das heißt: Bäume fällen. Allerdings fällt Peter nicht mehr selbst, seit dem er seinen Schwiegervater mal kurz vor knapp unter einem fallenden Baum weggezogen hat. Jetzt übernimmt das der befreundete Förster. Eine Wissenschaft für sich, wie ich lerne. Eigentlich macht man nämlich an eine Seite des Baumstammes einen waagerechten Schnitt. Auf der gegenüberliegenden Seite nimmt man dann knapp darunter ein keilförmiges Stück heraus. Dann sägt man den ersten Schnitt tiefer, bis der Baum auf Keilseite umkippt. So ist meistens relativ sicher, in welche Richtung der Baum fällt. Mittelfränkische Baumfäller*innen haben sich allerdings zu großen Teilen angewöhnt, statt einem aufwendig herausgesägten Keil einfach einen zweiten Schnitt zu machen – fallen tut er dann auch irgendwie. Die Unfälle, die dabei passieren, sind so makaber (wie bspw. der Länge nach aufgeschnittene Brustkörbe, halb abgerissene Gliedmaßen), dass im Dorf eine Baumfall-Notrufzentrale eingerichtet wurde. Das sind mal echte Probleme.
Bäume fällen heißt aber auch Bäume pflanzen. Mit der Klimaerwärmung werden es die flachwurzelnden Kiefern immer schwerer haben. Daher fangen Manuela und Peter gerade an, die gefällten Bäume mit Tiefwurzlern zu ersetzen. Und so ein kleines Geschenk für die Nachwelt zu hinterlassen.
Kulinarischer Urlaub gegen Hand
Manchmal nimmt mich Manuela auch zu Besorgungen mit. Wir brechen dann auf, fahren wie gesagt viel. Manchmal eine halbe bis dreiviertel Stunde, um irgendwo auf einem anderen Dorf bei irgendwelchen befreundeten Bioland- oder Demeterbauern (»lass die bloß nicht wissen, dass ich die in einen Topf werfe«) Kartoffeln, Getreide oder Quark zu holen. Alle von denen haben Kühe, weil Kartoffeln und Getreide da als selbst angebautes Futtermittel sozusagen abfallen. So bio! Aber egal. Denn die Kühe haben Kälber. Und ich darf Kühe und Kälber sehen. Das macht mich sehr glücklich – auch wenn ich den Dialekt der Bauern und Bäuerinnen so gut wie nicht verstehe.
Das ganze bio, so bilde ich mir jedenfalls ein, schmeckt man dem Essen auch an. Oder es liegt an Manuelas wirklich genialen Kochkünsten. So konnte ich ihr ein Rezept für Blaukraut-Lasagne entlocken, habe mir ein paar gekonnte Salat-Hacks abgeguckt und mein neues Lieblingsgericht, Nudeln mit Gorgonzola und Rosenkohl, kennen gelernt. Ich habe gelernt, wie man Frühstücksbrötchen und -baguette backt, was in Lebkuchen reingehört und dass bitteres Zeug wie Chicorée und Radicchio gar nicht mal so schlecht schmecken. Mein ich-bin-jetzt-Mittelfränkin-Zertifikat bekam ich schlussendlich beim Karpfen-Essen. Die Karpfen werden hier im Winter geschlachtet, frittiert und mit Kartoffel- und Endiviensalat serviert. Das wohl Mittelfränkischste Gericht, was es auf dieser Welt gibt.
blaukraut lasagne (auch wenn die zugegeben eher rot aussieht 😉 und am sonntag gibt’s brunch noch besser als die echten nürnberger lebkuchen – selbstgemachte u got this, karpfen
Urlaub gegen Hand in a Nutshell
Wenn man sich bei einem Urlaub gegen Hand auf wirklich eine Sache verlassen kann, dann ist es auf den Blick über den Tellerrand. Nach den zweieinhalb Wochen fühle ich mich – ich kann und will es nicht anders ausdrücken – erweitert. Ich gewinne Einblicke in den Alltag von zwei Menschen, die mir weder in Alter, Herkunft oder Hobbys ähnlich sind. Ich lerne, wie man ein ganzes Haus mit Holz heizt und auf was es bei der Forstwirtschaft ankommt. Kulinarisch erfreue ich mich an frittierten Karpfen und Nudeln mit Rosenkohl. Durch Peters wunderbaren Musikgeschmack gewinne ich an psychedelischen Input – Mort Garson und Kaitlym Aurelia Smith. Ich werde in eine Welt zwischen BioLand und Demeter entführt und kann mir endlich ein eigenes, vages Bild von meinem ach so romantisierten Landleben bilden. Ich stöbere in Fotoalben von Manuelas Syrienreise in den 80ern, lerne, wie man Briefumschläge aus Zeitungspapier näht und begebe mich an den Rand meiner bisher diskutierten Weltanschauung. Doch vor allen Dingen lerne ich, dass gegenseitige Sympathie und eine humanistische Grundeinstellung ausreichen, um über Alter, Herkunft, gemeinsame Hobbys und sogar Meinung hinweg Freundschaft zu schließen.
Mit meiner Arbeit hat das übrigens trotzdem ganz gut geklappt. Auch, wenn mir das immer keiner glaubt, aber ich arbeite ja trotzdem meine 40 Stunden die Woche am Laptop. Allerdings kann ich mir die Zeit ganz gut einteilen und arbeite dann immer fünf, sechs Stunden vormittag, lege dann eine drei-, vierstündige Pause für Haus- und Gartenarbeit ein, um dann abends die restlichen zwei, drei Stunden fertig zu machen. Tagesrhythmusmäßig ergibt das sogar relativ viel Sinn. So wird nämlich das Mittagstief dann relativ effektiv mit körperlicher Arbeit angegangen. Hab ich mir nicht ausgedacht. Hab nachgelesen. Und Bestätigung gefunden. Was man nicht alles lernt, beim Urlaub gegen Hand.
[…] Michi ist die Freundin von Thorsten, der mich seinerseits drei Mal über diese Facebook-Gruppe »Urlaub gegen Hand« angeschrieben und auf den »Gemeinschaftshof« eingeladen hat. Er hatte irgendwann mal meinen […]