Zum Inhalt springen

Drei kleine Geschichten

Und dann sind mir in Trier eben auch noch Dinge passiert, die sich erst im Nachhinein als erzählenswert herausstellten. Dinge, die erst beim abendlichen Spaziergang an der Mosel so richtig in mein Bewusstsein durchgedrungen sind.

Triggerwarnung: In der ersten Geschichte geht es um Kindesentzug vom Jugendamt und in der letzten um Schizophrenie.

Bettina

Bettina kam an einem Donnerstagabend zu uns. Jonas hatte sie wohl auf der Straße oder sonst wo kennen gelernt. Bettina fand Jonas gut, das lies sie bei seinem Abschiedsessen durchsickern. Ich jedenfalls dachte beim Anblick der kleinen, zarten, ja schon sehr zierlichen Bettina: »ach, wie nett«.

Ihre leicht verrückten Augen und ihre relativ fahle Haut sind mir zu dem Zeitpunkt zwar schon aufgefallen. Allerdings hat mich das natürlich nicht interessiert (soll doch jede*r Augen und Haut haben, wie ihr lieb ist) und ich gesellte mich zu der netten Runde im Wohnzimmer. Es ging ums Thema Pflege. Wie sich nämlich herausstellte, arbeiteten so gut wie alle der Menschen in derselbigen. Na ja, außer ich. Aber anderes Thema.

An irgendeinem Punkt jedenfalls wurde dann beklagt, dass es keine schöne Sache für Bewohner*innen eines Pflege- oder Altenheimes wär, wenn diese während der Periode der Kontaktbeschränkungen nicht rausgehen und auch keinen Besuch empfangen dürften. Allgemeine Zustimmung. Das sei auch nicht gut für die psychische Gesundheit. Es gäbe ja auch viele, die sagen, dass sie dann lieber Corona hätten. Allgemeine Zustimmung. Außerdem, dieses Gefühl eingesperrt zu sein, das sei doch nicht schön, fast so wie in der DDR. Allgemeines Schmunzeln und war-ja-nicht-so-gemeint-Gesicht, aber grundsätzliche Zustimmung. DDR? Das war für Bettinas Geschmack an Regime-Vergleich noch ein bisschen zu wenig. Da geht mehr. »Nein«, sagt sie mit ernster, überzeugter Stimme, »das ist wie im Dritten Reich! Wir befinden immer noch im Dritten Reich.« Uh ok. Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet. Mein Schlichtungsversuch »hmmmmmm, find ich jetzt ‘n bisschen krass den Vergleich, willste da nich nochmal drüber nachdenken????« konnte sie komischerweise nicht umstimmen. Nein, meine sie schon so, wie sie es sagt.

In dem Moment fiel mir auf, dass ihre Gesprächseröffnung vielleicht gar nicht von Grenzen überwinden und Nähe schaffen zeugte, sondern möglicherweise einfach von einem verklärten Weltbild. Im bereits zweiten Satz unserer anfänglichen Unterhaltung trug sie nämlich Folgendes ohne jegliche Barriere und mit völliger Offenheit kund. Ihr Kind würde ihr weggenommen worden sein. Sehen dürfe sie es auch nicht mehr. Sie habe manchmal ein paar schlechtere Seiten an sich, die das Kind zu spüren bekommen habe. Das Kind sei nun beim Vater.

Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Ich bin heillos überfordert. Schon wieder. Ich habe keine Ahnung, was Bettina sagen will und ich habe keine Ahnung, wie sie es meint. Ich weiß nicht, warum sie es erzählt. Ich will ihr nicht zu nahe treten. Vor lauter Unsicherheit übergehe ich das Thema und frage einfach nicht weiter nach. Die Stimmung im Raum ist grau und irgendwie leer. Ich fühle gleichzeitig Angst und Mitleid.

Zum Dritten-Reich-Thema sage ich nur, dass wir da wahrscheinlich nicht mehr überein kämen und das Thema wechseln könnten. Bettina senkt ihren Kopf und guckt mich eindringlich mit ihren eisblauen Augen an. »Du willst es nur nicht wahr haben.«

Der Geschirrspüler

»Dem Geschirrspüler muss man manchmal einfach gut zureden« sagt Cenin und setzt sich vor denselbigen. »Der hat halt seinen eigenen Kopf«. Manchmal reagiert das Schei*teil sofort und läuft sein 90-Minuten-Programm durch. Andere Male sitzt man eine Dreiviertel Stunde davor, streichelt es und drückt, erst behutsam, dann irgendwann sehr energisch den An-Knopf. Meistens endet dieses Schauspiel dann in Beschimpfungen und dem Abgang einer der beiden Hauptcharaktere. Guess who stays. Wie überhaupt nicht abzusehen war, ging dann ebendieser eigensinninge Geschirrspüler auch irgendwann in die Knie. Und ich freundete mich mit der Spüle an.

Diese Freundschaft hielt ungefähr 3 Minuten. Kurz nachdem ich dann nämlich den ersten Schwung Abwaschwasser in den Abfluss befreite, klingelte es im zwei-Sekunden-Takt an der Tür. Ich öffne und vom Restaurant unter uns schreit es wie kurz vor der Apokalypse in für mich persönlich vielleicht zu wenig kompromissbereitem Ton (schließlich kann doch ich dafür nichts) hinauf: »AUFHÖREN!!! WASSER AUS, DAS REGNET ALLES DURCH!!! MACH AUS!!!« Jaha, ruhig Blut, ist doch keine Absicht. Da wäscht man einmal ab und die hundert Jahre alten Rohre geben den Geist auf. Kannste dir nich ausdenken. Zwei Techniker hat’s gebraucht, um festzustellen, dass wir ein gut Daumenfinger-großes-Loch im Rohr haben. Aus dem fein hingesungenem Pfälzerisch wage ich zu verstehen: durchgerostet.

Und nun? In der Dusche abspülen? Bäh. Waschbecken? Zu klein. Gar nichts mehr Essen? Wohl noch am naheliegendsten. Doch Moment: warum abwaschen, wenn die Leute, die das stört, unter uns ein Restaurant haben und vermutlich auch so einen geilen Gastro-Geschirrspüler? Dass sich Cenin nicht sonderlich gut mit ihnen versteht, war für mich vermutlich nur noch mehr Ansporn da mal mit Hundeblick und guter Laune vorbeizuschneien. Und siehe da: ab da an gab’s nicht nur einmal am Tag sauberes Geschirr für drei Leute ohne Spüle, sondern auch noch einen Symapthiepunkt und ein gutes Wort für beide zerstrittene Parteien obendrauf. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann spülen sie noch heute.

Hanmi

Und wieder eine Geschichte, die mit Jonas anfängt. Der hat nämlich nicht nur die bezaubernde Bettina mit nach Hause gebracht, sondern ein paar Tage später auch Hanmi, der nicht wirklich Hanmi heißt, sondern Jeremy oder so, aber sich Hanmi nennt. Hanmi hat sehr lange Fingernägel und begegnet mir das erste Mal durch Cenins Erzählungen. Dieser kommt genervt aus dem Wohnzimmer zu mir rüber. Da säßen zwei Experten auf der Couch, die einen Joint nach dem anderen rauchten und sich über schwarze Magie und Lichtnahrung (also dem Glaube an die alleinige Ernährung aus Sonnenlicht, unter welchem damals schon dieser Typ gestorben ist) unterhielten. Ich bin, sagen wir, excited das neue Gesicht kennen zu lernen.

Irgendwann kommen die beiden Experten in die Küche. Tee holen. Folgender Dialog hat bei Hanmis Vorstellung so stattgefunden (wirklich wahr): »Hi, ich bin Hanmi, was geht bei euch?« – »Hi, Hanmi. Alles gut, danke, wie geht’s dir?« – »Ich komme gerade aus acht Monaten stationärem Psychiatrieaufenthalt und ich wollte fragen, ob ihr meine Freunde werden wollt. Also so langfristig.«

»Ob wir was?« schreit mein Gehirn. Mein Mund ist klüger: »ich bin hier in drei Wochen wieder weg«. Sofort habe ich um Hanmis geistigen Zustand noch mehr Angst als um seine Fingernägel und rufe, als er sich mit Jonas daraufhin wieder ins Wohnzimmer verkrümelt, hinterher »aber sonst natürlich gerne!!! <333 *-*«.

Hanmi ist an diesem Tag noch sehr, sehr lange bei uns und unterhält sich mit Cenin, als alle anderen schon im Bett sind. Am nächsten Tag wartet er 12 Uhr ab bis er anruft. Dann sitzt er wieder auf der Couch. Jonas ist mittlerweile schon gefahren. Cenin ist nun wohl sein Freund. Es fällt der Satz: »und ihr müsst mir jetzt halt zuhören, weil ihr meine Freunde seid«. Beim Abendspaziergang erzählt mir Cenin, dass er Hanmi (und übrigens auch Bettina) nett gebeten hat, nicht mehr in der Wohnung vorbeizukommen. Und dass man nicht nach 12 Stunden Freunde ist. Ich bin erleichtert.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert