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Wie ich eine Meinung hatte und trotzdem einen Menschen umarme

Bevor ich Cenin traf, dachte ich, dass ich ein sehr toleranter Mensch bin. Und nicht falsch verstehen: ich denke das schon immer noch. Was aber Toleranz noch bedeutet, wo die Grenzen meiner Toleranz liegen (oder lagen?) und was das alles mit der eigenen Meinung zu tun hat, lerne ich in Trier. Dass Toleranz eben auch bedeutet, andere Meinungen zu tolerieren und Jonas‘ Zweifel gegenüber Corona nicht tot zu diskutieren. »Weißt du, Nelli, für mich ist jemand ein guter Mensch, wenn er 70 Prozent der Zeit ein guter Mensch ist. Und auf welchem Teil seines Selbstfindungstrips der Jonas jetzt dieses Zeug aufgeschnappt hat ist mir erstmal egal. Hauptsache der Typ meint die Dinge gut. Und das tut er.« Das tut er wirklich. So sehr, dass wir uns am Ende sogar im wirklich Guten voneinander verabschieden. Aber wer ist denn eigentlich Jonas?

Der Hippie

Jonas ist, wie alle Leute, die ich in dieser weirden Stadt kennen lernen werde, ein sehr außergewöhnlicher Mensch. Er ist gerade mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Portugal und nun in Trier gelandet. Verrückt, denke ich. Ist doch eigentlich kalt draußen. Nicht so für Jonas: der läuft in kurzen Zimmermannhosen und Schafsfellweste rum. Seine Holzkette ergänzt perfekt seine gerade-so-noch-nicht-verfilzten Haare, die Barfußschuhe machen das Bild komplett. Bei unserem ersten gemeinsamen Spaziergang erzählt mir Jonas allerhand schöne, verrückte, herzzerreißende und komische Geschichten. Ich finde Jonas sehr angenehm und laufe gern mit ihm durch die Stadt.

In Trier ist er nun zum zweiten Mal. Das erste Mal war er vor sieben Jahren hier, als er gerade vom Wandern kam und rechtzeitig zum Weihnachtsmarkt eintraf. Dort hat er Ferdinand kennen gelernt. Ferdinand hat gebettelt und Jonas fragte, ob er sich zu ihm setzen kann. So kamen sie ins Gespräch und es stellte sich heraus, dass Ferdinand eigentlich eine Wohnung hat und auch Hilfen bekommt. Trotzdem bettelt Ferdinand, um sich seinen größten Wunsch zu erfüllen: einen solar-betriebenen-Bambus-Rollstuhl selbst zu bauen. Er hat nämlich durch sein Diabetes ein Bein verloren. Die Geschichte endet so, dass Jonas noch neun weitere Tage in Trier und bei Ferdinand bleibt.

Das ist eine von vielen, vielen, wirklich sehr vielen Jonas-Geschichten. Macht er den Mund auf, so tut er das nicht ohne ein Lächeln. Seine Stimme ist weich wie in der Sonne schmelzende Butter, reden tut er langsam und bedächtig. Alles in allem ein Mensch, den ich, wie gesagt, gerne mag. Bis zu einem gewissen Punkt. Bis zu dem Punkt. Bis zu dem Punkt, an dem wir Nachrichten gucken und sich herausstellt, dass Jonas dieser ganzen Corona-Sache nicht unbedingt so wirklich vertraut. »30% der Befragten finden die Maßnahmen«, setzt Claus Cleber im Politbarometer an. Jonas unterbricht: »… der Befragten! Aber wen haben sie denn befragt?!« wirft er keck und mit Siegerlächeln ganz querdenkend ein. Später fällt der Satz »Ich will nicht sagen, dass es Corona nicht gibt, aber…« und ich befrage mich, ob das das neue »Ich bin kein Nazi, aber … « ist. Mein Bild von Jonas dreht sich um 180 Grad. Schlagartig finde ich Jonas nicht mehr ruhig und bedächtig, sondern langsam und lahmarschig. Ich finde ihn besserwisserisch und fühle mich oft mansplaint. Ich bin genervt und das sage ich ihm auch. Auf einmal gehen wir uns aus dem Weg. Ich mache zu.

Ende der Geschichte?

Hier wäre – wer Zwischenüberschriften lesen kann, ist klar im Vorteil – eigentlich das Ende der Geschichte gewesen. Jedenfalls, wenn ich sie vor drei Monaten erlebt hätte. Ich hätte gedacht, dass ich mich auf keine Diskussion einlassen werde, wenn weder ich noch mein Gegenüber bereit sind, von unserer Meinung abzuweichen. Ich hätte Jonas für verrückt erklärt und hätte nichts mit ihm zu tun haben wollen. Mehr noch: ich hätte ihn als Gefahr für unsere Gesellschaft bezeichnet. Vielleicht hätte ich mich gerade noch so von ihm verabschiedet. Danach hätte ich ihn aber aus meinen Gedanken verbannt und mich wieder in meine kleine Akademikerblase zurückgezogen, wo alle die gleiche Meinung zu den einschlägigen Themen haben.

Aber nicht diesmal. Diesmal kann ich Jonas nicht aus dem Weg gehen, da er noch wenigstens fünf Tage bei uns bleiben würde. Diesmal kann ich nicht rennen und mich nicht verschließen. Aber vor allem: diesmal gibt es Cenin. Und damit einen Menschen, der mich auf eigenartige Weise davon überzeugt, dass das jetzt nicht gleich der Weltuntergang ist, wenn da halt jemand ’ne andere Meinung hat. Und wahrscheinlich hat er einfach recht, wenn er sagt, dass »der Jonas« das ja nicht böse meine. Und dass er sonst ein guter Mensch ist. Und dass er sich eben auch Dinge so legt, wie sie gerade gut sind für ihn. Wie. Wir. Alle. Und da löst sich wieder irgendein Knoten in meinem Kopf. 70 Prozent der Zeit ein guter Mensch.

Der Abschied

Als Jonas fährt umarmen wir uns herzlich und wünschen uns gegenseitig alles Gute. Und ich glaube, das meinen wir sogar so. Und ich denke mir: ist das nicht krass? Dass ich einer Person jetzt alles Gute wünsche, mit deren tieflegendem Gedankengut ich überhaupt nicht übereinstimme und, mehr noch, mich sogar ziemlich doll daran störe? Ich bin völlig baff. Von Jonas. Von mir. Von Cenin.

Heute habe ich keinen Kontakt mehr mit Jonas und das ist auch ok. Und trotzdem habe ich durch ihn wahrscheinlich mehr gelernt, als durch fünfzig Leute, die meiner Meinung sind. Eine Einsicht, die sich in meiner Trierer Zeit noch öfter bestätigen sollte.

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