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Ein Tag in der legendären Passauer WG

In meinem Kopf gibt es zwei kleine Männchen. Das eine will unbedingt die ganze Welt entdecken und am liebsten nur da leben, wo noch niemand sonst gelebt hat. Das andere ordnet alle Stifte parallel zur Tischkante an.

Als bekennende Neurotikerin mag ich es, wenn Tage einen Ablauf haben. Ich mag es, wenn ich weiß, wann es Mittag gibt und ich freue mich, wenn ich meinen Zeitplan einhalte. Zum Thema Spontanität schätzte mich meine Freundin Sina mal als »überhaupt nicht« ein, was ich sowohl ehrlich als auch wahr finde. Durch das Umziehen und das sich-immer-wieder-einstellen hat sich das Ganze mittlerweile ein wenig gebessert – ich werde unordentlicher. Das ist sehr angenehm. Nicht nur für mich, auch für meine Mitmenschen. Gleiche Tagesabläufe machen mich aber immer noch glücklich In meiner Passauer WG konnte ich mich darauf verlassen. Ein Stundenplan.

Der frühe Vogel

Halb Acht. Mein Wecker klingelt. Die Wohnung war früher mal eine Zahnarztpraxis, daher gibt’s in den oberen Zimmern noch Waschbecken. Praktisch. Da rollt man aus dem Bett direkt ins kalte Wasser rein. Ich nehme meinen Arbeitsrechner und gehe das knarzende Treppenhaus ein Stockwerk runter Richtung Küche. Die Dielen sind hier so alt und so laut, dass ich jeden Morgen in Angst lebe, Joni und Josepha ihren wohlverdienten Schlaf zu rauben, wenn ich mich an ihrem Zimmer vorbei schleiche. Knarz. Doch die scheinen das gewohnt zu sein. Knarz. Die große Beschwerde gab’s erst, als ich auf meinem nächtlichen Weg zum Klo einen genial platzierten Wäscheständer direkt vor Jonis Tür umrenne. Knall.

das knarzende treppenhaus – mit wohnungseingangstür auf der treppe

In der Küche bin ich die erste. Ich lüfte heimlich und mache mir Milch für den Tee warm. Schwarzer Tee, Schoko-Tee, dann erst kommt der Kaffee. Weil dann das Kaffee-Tief vom Tee-Hoch abgefangen wird. Und weil mir die Routine so eine bescheuerte Sicherheit gibt.

Sobald ich den ersten Schluck genommen habe, betritt Nele mit einem Grinsen im Gesicht den Raum. Nele grinst immer. Und Nele hat immer gute Laune. Beim Frühstück erzählt sie von ihrem Bruder, der Pfalz, Englisch oder der Fabi, ihrer besten Freundin. Ich find’s immer interessant und wünsche mir oft heimlich, dass ich auch nochmal so cool werde, wie Nele.

Während Nele so erzählt fängt es im Nebenzimmer an zu rumpeln. Manu steht auf. Manu hat die liebenswerte Eigenschaft, dass man immer genau weiß, wo er sich in der Wohnung gerade befindet. Er wirkt immer ein bisschen gestresst und führt alle Bewegungen immer doppelt so schnell und vielleicht auch doppelt so laut aus wie andere. Dadurch ist er zwar doppelt so tollpatschig, aber auch doppelt so produktiv – jeden Tag Sport und seit zwei Jahren selbstständiger Filmproduzent. Und während seines perfekt nach Nährstoffen und Vitaminen dosierten Frühstücks liest er auch noch Nachrichten.

tollpatschig?

Arbeitszeit

So gegen 9 verlässt Manu das Haus und ich ziehe mit meinem zweiten Heißgetränk in sein perfekt eingerichtetes Instagram-Zimmer. Für Manus Pflanzen bekomme ich bei meinen Meetings regelmäßig Komplimente. Kurz nachdem ich mich eingerichtet habe, steht Josepha auf und fängt so gut wie sofort an zu lernen oder zu arbeiten. Später kommt Joni, der am Vortag bis spät in die Nacht für seine juristischen Zwischenprüfungen gelernt hat, und kurz vor dem Mittag Flo, der immer als Erster ins Bett geht und als Letzter aufsteht.

Im Laufe meines Aufenthalts in der Passauer WG habe ich natürlich gelernt, Zeiten, Hausflurgeräusche und Küchentätigkeiten meinen Mitbewohner*innen zuzuordnen. Normale Treppenlautstärke und Müslischüsselgeräusch gegen zehn: Joni. Leise Treppenlautstärke und Kühlschrank-im-Flur-Tür auf und zu, sofort danach wieder hoch: Flo frühstückt. Unnütze Skills? Ein klarer Fall.

Die heilige Mittagspause

Wahlweise Josepha oder Nele strecken dann das erste Mal gegen zwölf, halb eins ihren Kopf durch die Tür und fragen, ob ich schon Hunger hätte. Meine Antwort ist immer »ja«. Also kocht irgendjemand Nudeln oder »Alles-Salat«. Dieses gemeinsame Essen ist super. Es ist das Highlight des Tages. Tut ja auch gut, sagt die Wissenschaft. Nicht nur in Familien, sondern eben auch in einer Passauer WG fördert das die Gemeinschaft und, klar, den Austausch. Nele sagt immer: unser Lunch & Learn. Weil natürlich alle über das erzählen, womit sie sich so die ganze Zeit beschäftigen: Kulturwirtschaft, Jura und, again, Neles Bruder. Sogar Flo, der meistens erst eins, zwei Stunden vorher gefrühstückt hat, zwängt sich ein paar Bissen rein und erzählt von Geografie.

Den Abwasch macht Joni. Irgendwie hat sich das so eingebürgert. Ungeschriebene Regel ist zwar, dass die Person den Abwasch macht, die als letztes aktiv am Koch- oder Abwaschprozess beteiligt war. Da Flo das aber nicht versteht. Manu zum Mittag nicht da ist und Josepha, Nele und ich eigentlich immer kochen, ist es immer Joni.

Die verlorene Zeit

An diesem Punkt ist meine kognitive Batterie meist komplett leer. Nach dem Mittag sitze ich pro forma vor meinem Rechner und gucke mehr durch als auf den Bildschirm. Nach fünf Minuten lüge ich mir vor, dass ich erstmal verdauen muss und lege mich auf Manus Designer-Couch.

Ich finde es immer sehr bewundernswert, wenn Menschen nach dem Mittag konzentriert arbeiten können. In der Passauer WG empfand ich diese Bewunderung für alle fünf Mitbewohner*innen. Ich hingegen kann zwischen 14 und 17 Uhr grundsätzlich nichts mit meinem Gehirn anfangen. Manchmal konnte ich wohl Mitleid bei Josepha erwecken, die sich dann dazu breitschlagen ließ, mit mir zusammen zu vegetieren. Wenn ich Glück habe, gibt es Knoppers. Manchmal auch einen Spaziergang.

Manchmal habe ich auch kein Glück und dann ist mir Joni zuvorgekommen. Dann finde ich meine beiden schwäbischen Mitbewohner*innen Instagram-Stories schauend auf dem Boden liegen. Oder ich höre sie nur. Aus der anderen Ecke der zweistöckigen Wohnung. Lautes, schallendes Gelächter. Dann ist kein rankommen mehr an die beiden. Sie werden für die nächste Stunde nicht ansprechbar im Social Media Tunnel stecken. Eifersüchtig? Pah, höchstens darauf, dass ich – und ich strenge mich wirklich an – einfach kein Wort Schwäbisch beherrsche.

Manchmal, selten, hatte ich das besondere Glück und alle fanden sich zum Co-Working – einer meiner liebsten Beschäftigungen – in meinem, äh, Manus Zimmer ein. Sogar meine kognitive Batterie konnte dann nochmal ein bisschen laden. Für die Arbeit. Oder für das Kreuzworträtsel. Oder einfach nur für den Kuchen.

Intermezzo

»Wie läuft’s mit deiner Freeletics-WG?« fragt mich Tina per Telegram. Shit. Ich hatte ihr anscheinend erzählt, dass das hier ein Ding ist. Meine ehrliche Antwort, dass ich mich meistens nur zu einer Runde Yoga überwinden kann, statt meinen Körper mindestens eine halbe Stunde einer schmerzhaften Tortur an furchtbaren Eigengewicht-Übungen auszusetzen, stellt sie wie erwartet nicht zufrieden: »einmal musst du mitmachen«. Och nö.

Für die Glücklichen, deren Leben sie bisher vor diesem Graus verschont hat – Freeletics ist eine App, die sich der Teufel des Fitness schon lange vor Corona ausdachte, um Menschen zu malträtieren, die ihren Schweinehund überwunden haben. Jedes einzelne der Workouts zielt auf das psychische Durchhaltevermögen ab. Es geht nicht um Fitness, es geht um eisernen Willen. Es geht um Übungen, die – bei erstmaliger Aufführung schon dermaßen anstrengend – lächerlich oft wiederholt werden. Weit über die Schmerzgrenze hinaus. Man soll kämpfen und man soll leiden.

Manu unterzieht sich diesem Ritual seit zwei Jahren, sieben Monaten und 24 Tagen zum Zeitpunkt an den ich ihn frage. Und ich liebe alles daran, dass er mir das auch so genau sagt. Und der Grund, dass Manu auch doppelt so viel essen kann, wie der Rest.

es sieht einfach aus, aber

Am Ende mache ich übrigens doch noch einmal mit. Um sagen zu können, dass ich einmal mitgemacht habe. Ich habe extra auf den Tag gewartet, an dem es »keine Burpees« gibt. Wir sind bei der Erwärmung. Es gibt Burpees. Es gibt immer Burpees. Ich habe vier (!) Tage lang Muskelkater.

Abendprogramm

Pünktlich zum Abendbrot finden sich dann alle K.O., geduscht (im Flur, klar) und hungrig in der Küche ein. Wenn wir Glück haben, hat Manu ein Brot gebacken. Ich lasse mir das Rezept geben und werde es ab da an »Manu’s Bayerisches Vollkornbrot« nennen – egal, wie oft er mir sagt, dass das Rezept von Chefkoch ist. Wenn wir anderes Glück haben, kocht jemand. Wir haben eigentlich immer Glück. Gleiche Prozedur und Joni wäscht ab.

die dusche – auf dem flur

Joni lernt, wie alle Jurist*innen, mit denen ich bisher zusammen gewohnt habe, immer sehr lange und bis sehr spät. Während Nele sich in die Waagerechte begibt, Flo wieder in sein Zimmer stapft und ich den Beamer für den Rest aufbaue – irgendwie hat es Manu clevererweise geschafft, diese doch wirklich sehr nervige Tätigkeit outzusourcen – setzt Joni mit Mate bewaffnet zum Endspurt der Lernsession an. Ich will niemals, wirklich niemals, Jura studieren.

»wenn draußen einmal blaulicht ist« – edition passau

Hoch die Hände

Nur freitags ticken die Uhren ein wenig anders. Eine ganze Woche lang wurde Sport getrieben, gearbeitet, gelernt, gesund gegessen und in genereller Askese gelebt. Ein Leben, wie ich es schon aus dem ersten Lockdown in meiner Berliner WG kenne. Ein Student*innenkörper ist diese sehr gesunde Lebensweise allerdings nicht gewohnt. Jahrelang wurde so ein Körper trainiert: Erstifahrten, Studi-Parties, Kaster-Rennen oder auch einfach nur das Feierabendbier. Und nun? Der Körper ist verwirrt.

Freitage enden deshalb dann oft damit, den unterlassenen Konsum schockartig an einem Abend aufzuholen. Dem Körper wieder Futter zu geben. Ein kleines bisschen Normalität im Lockdown zurück holen. Idee: gut. Ausführung: schmerzhaft.

Ich lerne: man wird nicht jünger. Aber eben auch ein Kater ist eine Routine, auf die sich meine inneres, neurotischen Männchen verlassen kann.

»tonight, i gonna have myself a real good time, i feel ali-a-a-ive«
v.l.: icke, nele, flo, joni (unten), manu, josepha. nicht auf dem bild: der kater am folgetag

3 Kommentare

  1. […] heißt: jung sein. Oder: jünger. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich die Älteste in einer WG bin. In meiner Familie waren, bis ich 15 wurde, alle mindestens zehn Jahre älter als ich. In der […]

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