»Aber hier leben? Nein, danke!« singt die beste Band der Welt und spricht mir damit aus dem Herzen. Freiburg. Zwei Silben, viel Bedeutung.
In Freiburg bin ich nicht ganz zum ersten Mal. Ich war schon mal hier. Es war der Sommer nach dem ersten Studienjahr, sechs Jahre ist das jetzt her. Meine neue Freundin Mona hat mich und ihre WG in ihr Elternhaus im Schwarzwald eingeladen. Eine Woche lang haben wir draußen geschlafen, Werwolf gespielt und die Aussicht genossen. Einmal sind wir dann auch »runter« gefahren, tanzen gehen. Mit allem drum und dran: eine Stunde Bimmelzug, Mitternachtsdöner für 6,50€ und Füße im Bächle kühlen. Im Fernbus zurück nach Berlin war ich traurig, weil das alles da so schön war. Heile Welt.
Seit dem ist Freiburg in meinem Kopf sowas wie die perfekte Stadt. Sie ist schön, sie ist ruhig, sie ist studentisch, öko, sonnig, bergig, und sie ist nah an Frankreich und der Schweiz. Und: langweilig.
Was du mehr willst, habe ich gefragt
Freiburg ist schön. Die Stadt hat 28 Stadtteile und keiner ist assi. Alles ist geputzt, sauber und hübsch anzusehen. In der Innenstadt ist es das Fachwerk, im Stühlinger ist es der Jugendstil, in Herdern sind es die Villen. Es gibt unglaublich viele Bäume, schöne Parks, man läuft regelmäßig an Reben vorbei. Kein Mülleimer ist überfüllt, selbst die Bächle sind astrein geputzt. In das perfekte, aus kleinen, ovalen Rhein-Steinen geformte Pflaster im Zentrum sind mit viel Hingabe irgendwelche Bildchen, sogenannte Medallions, gearbeitet – eine Ikone der Pflasterkunst. Die Menschen sind glücklich und sehen gut aus, lächeln einen auf der Straße an, grüßen sogar manchmal. Alle fahren Fahrrad. Und der Badische Singsang setzt der schrecklichen Gute-Laune-Perfektion die Krone auf.
Als wir im Prenzlberg-Pendant, dem Stühlinger, erst am gleichnamigen Bauernmarkt und dann an einer bildhübschen Kirche durch irgendeinen Park gehen, erklärt mir Regina, dass der Park wohl relativ gefährlich sei. Hier solle ich nachts besser nicht alleine langgehen. Ich würde sonst vielleicht gefragt, ob ich Drogen kaufen wollte. Ich schaue mich um. »Irgendwie süß« denke ich mit meiner Berliner Arroganz. Eine Gruppe von Dealern steht auf den Kirchentreppen, hört Reggaeton und tanzt. Menschen mit Dreads, Menschen ohne Haare. Weiße Menschen, schwarze Menschen. Zusammen. Stehen sie da. Und tanzen. Und ich solle hier nachts nicht durchgehen. Durchtanzen, denke ich, wär wohl angemessener.
Aber Freiburg ist einfach zu nett. Hier entschuldigen sich Fahrradfahrer:innen bei mir, wenn ich sie aus Prinzip nicht beachte und sie dann fast in mich reinfahren. Ich weiß nicht, wieso ich euch so hasse, untermalt mein Hirn die eigens für diesen Ohrwurm provozierte Situation. Kann mir denn hier niemand mal blöd kommen? Ich suche nach den dreckigen Geheimnissen. Auch du, Freiburg, musst doch irgendwelche schlecht gelaunten Menschen haben. Oder wenigstens Clans! Irgendwelche zwielichtigen Matroschka-Geldwäsche-Geschäfte. Zumindest ein paar Leute, die ihren Müll nicht wegräumen?
großes bächle mit krokodil (links) seepark, freiburg, schwarzwald
Wo sind deine Schandflecken?
Freiburg ist so etwas wie die Musterschülerin unter den Städten. Sie ist unglaublich nett, zuvorkommend, stellt im Unterricht die richtigen Fragen und ist in jedem Fach sehr gut. Sie spielt Tennis, stößt nirgendwo an und engagiert sich als Klassensprecherin und in einer Umweltschutz-AG. Freiburg ist in allem vorbildlich. Und trotzdem sehne ich mich oft danach, hier von irgendetwas erschüttert oder wenigstens ergriffen zu werden.
Aber selbst das Gefängnis ist von außen ansehnlich, nicht bedrohlich und mit einer coolen Ausstellung über Häftlingszellen an den Außenmauern geschmückt. Freiburg schreit »Guck mal, wie integrativ wir sind!«. Aber ich versteh nur »Guck mal, wie perfekt wir sind!«.
zimmer 1 zimmer 2 zimmer 3 die galerie an der gefängnismauer
Doch mir ist das zu viel Blase. Ich will nicht im Disney-Land wohnen. Ich habe den weißen, heterosexuellen Öko-Boomer-Jürgen vor meinem inneren Auge, wie er von seinem Lastenfahrrad heraus für eine bessere Welt kämpft. Mit Problemansätzen, die gut gemeint, aber eben auch nur aus dem beschränkten Wissens- und Erfahrungsrahmen einer deutschen Mittelschichtperson entstehen. Wenn ich mir immer Waschmittel leisten konnte, kann ich nicht wissen, dass das eine Mangelware für von Armut betroffene Menschen ist. Dann denke ich: nee, die Leute brauchen Kochkurse, um sich gesund ernähren zu können. Aber was ist das tiefergehende Problem?
Das Gegenteil von gut ist gut gemeint
In solchen Situationen ist es immer gut, wenn man einen Soziologen kennt. Und so ein Zufall: ich kenne einen. An einem Samstagmorgen telefoniere ich mit Jacob, lese vor, was ich bisher so zusammengeschrieben hab und sage: »Bitte einordnen«. Jacob freut sich. Er darf erzählen. Jacob erzählt gerne. Und beginnt mit: Lob für mich. Cool! Das nämlich, lobt Jacob also, was ich da oben als »Wissens- und Erfahrungsrahmen« (einer deutschen Mittelschichtperson) betitelt habe, nennt ein gewisser Karl Mannheimer nämlich Ideologie. Und, ach ja, in der sind wir erstmal gefangen. Darin ist sich die Soziologie einig. Deshalb braucht es in Lastenfahrrad-Jürgens Öko-Welt eben auch Kochkurse. Vielleicht bräuchte er die nämlich selbst.
Nun gibt es einige Menschen, Soziolog:innen, die sagen, aus seiner eigenen Ideologie käme man nicht raus. Um diese Leute geht es hier nicht. Auch, wenn das laut Jacob die Mainstream-Meinung sei. Die anderen denken, Überraschung, man käme wohl raus. Also vielleicht nicht ganz. Aber wenigstens erweitern könne man seine Ideologie. Karl Mannheimer zum Beispiel denkt das. Und Jacob. Und ich glaub, ich denke das auch. Warum, weiß ich hingegen nicht. Jacob schon. Und er erzählt von der soziologischen Figur des Fremden.
Wir müssen uns irritieren lassen
Der Fremde, Platon hat ihn sich ausgedacht, ist eine Person, die durch Zufall in eine ihm nicht vertraute Schicht gerät, erzählt Jacob. Also eine reiche Person kommt in ein armes Umfeld. Oder andersrum. Aber, wissen wir, das passiert seltener. Hier lebt diese Person nun eine zeitlang. Sie lernt die Menschen und Kultur kennen und macht ganz allgemein: Erfahrungen. Was nun an dem Fremden so besonders ist, ist der Background – die Erfahrungen und das Wissen, richtig, die Ideologie – der eigenen Schicht. Hier ist er neu. Der oder die Fremde muss vielleicht neue Sitten lernen. Die Sprache anpassen. Die Kleidung und die Essgewohnheiten. Kurzum: sie verändert sich.
Was der Fremde aber nicht verändern kann, ist sein Background. Dieser bleibt gleich während seine Erfahrungen und sein Wissen in der und über die neue Schicht fast zwangsweise auf ein neues Level gehoben werden.
Was den Fremden außerdem besonders macht, ist diese außenstehende Position. Georg Simmel nennt den Fremden wohl den inkludierten Exkludierten. Nie wirklich drin. Aber auch nicht wirklich draußen. Er ist damit automatisch objektiver als ein Mensch, der »immer in seiner eigenen Seinslage verharrt«, schließlich kennt er die Welt ja von zwei Punkten aus, sagt Jacob. Und auch Nietzsche erwähnt die Figur des Fremden. Er nennt sie den Wanderer, der immer neue Gebiete sieht, in denen er fremd ist. Doch allen gemein ist die Persona: ein Mensch, der aus seiner Blase ausbricht. Der sich irritieren lässt.
Und Irritationen, spannt Jacob den Bogen zurück, seien laut Simmel wieder das, was unser »Nervenleben« anregt. Und was uns nachdenken lässt. Was uns kreativ werden lässt. Das, was Öko-Boomer-Jürgen bräuchte, um wirklich die Probleme der anderen Menschen zu lösen.
bächle again freiburg von oben das freiburger münster (zu groß)
Privilegien haben
Worauf ich mit diesem eher weniger als mehr professionellem Soziologie-Intermezzo hier hinaus will, ist nur, dass hinter diesen, na ja, etwas zu perfekten Lebensräumen wie Freiburg, auch immer die Gefahr steckt, dass wir die Welt um uns herum vergessen. Wir wissen alle, dass Hartz-IV menschenverachtend ist. Wie scheiße sich das aber wirklich anfühlt, bekommen wir nur von den Menschen gespiegelt, die die Erfahrung wirklich machen mussten. Die in ihrer Kindheit auch im Sommer mit dicker Jacke in die Schule kamen. Weil sie den Geruch der ungewaschenen Sachen verdecken sollte. Weil das Geld nicht mehr für Waschmittel gereicht hat.
Nachfühlen kann werde ich solche Traumata wahrscheinlich trotzdem nie können. Aber mich mit Menschen zu umgeben, die anders als ich aufgewachsen sind, ist für mich ein tiefes und immer wichtiger werdendes Bedürfnis. Ein Gespräch mit einer Hartz-4-Empfängerin bleibt mir so viel länger, intensiver und emotionsgeladener im Gedächtnis als jede Frontal-21-Reportage und jede Die-Anstalt-Folge. Oder anders: in meiner Blase erkenne und verurteile ich vor allem die Probleme meiner Blase. Was mir fehlt, ist die Empathie und, ja, die Ideologie von außerhalb.
So. Und wenn ich diese Begegnungen in Freiburg nun einfach nicht habe, werde ich im besten Fall auf Ewigkeiten versuchen, strukturelle Probleme mit Lastenfahrrad und Kochkursen zu lösen. Wenn’s nicht so gut läuft, nehme ich diese Probleme gar nicht erst wahr oder viel zu schnell hin. Weil Armut für mich weit weg ist. Weil ich keine Menschen kenne, die drunter leiden. Und dit is mein Problem!
Freiburg, du bist nicht allein
Natürlich ist das jetzt nicht Freiburg alleine. Köln-Blumenberg, der komplette Berliner Südwesten und ganz Hamburg nördlich der Elbe (sowie natürlich auch der Deutsche Bundestag) sind nur einige Beispiele für eine extrem homogene Masse an Menschen ohne Waschmittel-Probleme. Na klar, viele Leute interessieren sich für Soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Inklusion und können spätestens nach dem dritten Chardonnay die Gründe für die Ungleichverteilung von Geld und Gütern erklären. Ich unterstelle den Wenigsten, dass sie nicht helfen wollen.
Aber wenn ich höre, dass Hartz-4-Leute an ihrem Unglück selbst schuld sind oder in Deutschland niemand auf der Straße leben muss, dass eine Sucht peinlich und eklig ist und dass »die es auch schon ganz schön gut haben, dafür dass sie nicht arbeiten gehen«, dreht sich mir der Magen um.
Aus unserem Elfenbeinturm heraus werden wir wohl selten die besten Lösungsansätze finden. Und was Menschen mit Problemen hilft, erfahren wir, die die Hilfsressourcen haben, auch nur, wenn wir uns wenigstens ein bisschen aus unserem fußbodengeheizten Zuhause raus bewegen und mit Menschen mit Problemen reden. Und zwar auf Augenhöhe. Es ist Zeit für mehr Verständnis. Für mehr fremd sein. Zeit für weniger Kochkurse. Das Lastenrad abstellen und mit die Menschen kennen lernen, die bei der Geburt nicht so viel Glück hatten. Und die gibt’s garantiert auch in Freiburg.
Hallo Ninell,
der Beitrag gefällt mir sehr gut!
Ich weiß ja noch nicht, wo es Dich als nächstes hin verschlägt? Aber sollte deine Suchanzeige für Gelsenkirchen erfolgreich gewesen sein, dann findest du dort garantiert kein zweites Freiburg. Ob das jetzt positiver oder negativer ist das kann ich dann ja hoffentlich einem deiner nächsten Beiträge entnehmen. Ich denke Bochum hätte für deinen Blog vielleicht auch zu wenig Ansatzpunkte und geliefert. 😉 Hier wäre es eine „langweilige“ Doppelhaushälfte mit Garten gewesen. Nichtsdestotrotz kannst du Dich, wenn du Bock hast und schönes Wetter ist, gerne einmal zum Grillen einladen. Ich würde mich freuen und ich denke mit dir kann man beim grillen gute Diskussionen führen wie man Freiburg für alle erreicht? ;-P
Viele Grüße aus Wattenscheid
Martin
[…] meine Rolle. Während Zwölf Mal Deutschland hatte ich diese Beobachter-Rolle. Oder die Rolle der Fremden, wie ich sie in Freiburg nach Platon betitele. Ich war kurze Zeit da, konnte mir einen guten Einblick verschaffen, mit Leuten reden und […]