Das Zugfahren. Es scheint so einfach wie banal. Und doch erfüllt mich jede blaue Anzeigetafel am Bahnhof, jede schreiend laute Bremse, jede vertraut weiche Durchsage und jedes Tür-auf-und-Einsteigen in den immer wieder gleichen ICE mit einer wohligen, allumfassenden Wärme. Eine Liebeserklärung an den Zug.
Zugfahren und andere Orte
Was bist du, Zugfahren? Bist du eine Tätigkeit? Eine Beschäftigung? Bist du ein Ort? Wohl eher ein Nichtort. Der Nichtort Zug. Mein Nichtort.
Ich sitze in dir. Ich bin dabei. Beim Zugfahren. Mal wieder. Von Freiburg. Nach Frankfurt (Main). Ein Umstieg in Mannheim. Wo ist eigentlich Mannheim habe ich mich damals immer gefragt. Jetzt kenne ich den dortigen Bahnhofs-Yorma’s. Du hast mich durch Coburg geführt. Durch Uelzen. Durch Würzburg und Saarbrücken. All diese Ort, die vorher nur Namen waren. Jetzt sind sie Punkte im Google Maps meines Kopfes.
Der Zug, ein Nichtort
Als Nichtort, lieber Zug, hast du all das, was ein Ort nicht hat. Du hast keine Kirche, du hast keinen Bäcker und du hast auch kein Kaufland. Du hast keine Autos, keine Parkplätze, du hast keine Tauben. Aber vor allem hast du keine Bewohner. Oder jedenfalls keine Einwohner. Insbesondere hast du keine Menschen, die sich mit dir identifizieren wollen. Oder müssen, weil sie in dich reingeboren sind.
Du hast keine Menschen, die sich zu dir positionieren. Keine Menschen, die aus dir kommen oder in dir wohnen. Und keine Menschen, in denen permanent rattert, wie sie dich finden. Die sich fragen, ob sie zufrieden mit dir sind. Oder welche Promis in dir wohnen. Die sich Gedanken machen um die anderen Menschen, die zu dir ziehen und ob sie sich mit denen verstehen. Oder ob sie denen ähnlich sind. Keine Menschen, die stolz auf dich sind. Oder stolz auf sich, weil sie in dir wohnen. In dir wohnt man nicht. In dir ist man nur. Und selbst das nicht auf Dauer.
Gleichzeitig, lieber Zug, hast du als Nichtort diese Ausstrahlung, die ein Ort nicht hat. Und bewegst dich, was kein Ort tut. Du ruckelst. Und zuckelst. Und bist gleichzeitig ruhig. Warm. Geborgen. Und überall gleich, wo auch immer du bist. Und bist doch nicht.
Du, Zug, bist ein Nichtort. In dir bin ich nicht statisch, aber ich bewege mich auch nicht. Bin nicht da, aber auch nicht weg. Ich bin im Transit. Ich bin Transit. Vielleicht kann ich mich deswegen so gut konzentrieren. Du lenkst mich nicht ab. Du erinnerst mich nicht an Freunde, Bekannte, Verflossene. Nicht an gute und nicht an schlechte Tage. In dir muss ich nichts verarbeiten und auch nichts entdecken. Du hast keine Geschichte. Oder eher: du hast deine ganz eigene Geschichte.
Am liebsten würde ich die ganze Zeit nur Zug fahren
Und du bist besonders. Du bist nicht aufdringlich. Dein Nicht-Sein wirkt sich nicht auf mein Sehr-Wohl-Sein aus. Trotz deines Nicht-Seins kann ich sein. Mehr noch: kann ich machen. Du bist Beschäftigung. Und lässt gleichzeitig Raum für Beschäftigung. Wenn man mit dir fährt, das hat Till Reiners mal gesagt, und dann noch was arbeitet, fühlt sich das an, als würde man doppelt produktiv sein. Das kann mir kein Ort geben. Kein Sport-machen-und-nebenbei-Nachrichten-gucken und kein gleichzeitig-alle-Endgeräte-laden-lassen-während-die-Waschmaschine-läuft können das Produktivitätsgefühl ersetzen, das du mir gibst, Zug. Fahren, glotzen, schreiben.
So sitze ich in meinem Vierer, der jetzt während der Pandemie immer frei ist, und gucke abwechselnd auf den Rechner und aus dem Fenster. Manchmal auf die Karte. Ich lausche, wenn jemand über den geschmeidigen Teppichboden geht. Höre ganz genau hin, denn natürlich dämpfst du das Geräusch. Du bist ja so leise. Ich störe mich nicht an deinen manchmal zu vollen Mülleimern. Wir alle haben Fehler. Natürlich verzeihe ich dir, wenn dein Wifi nicht geht. Natürlich stört es mich nicht, wenn die Klobrille minimal vollgepinkelt ist. Wozu hat man denn Muskeln in den Oberschenkeln. Wir alle haben Fehler. Aber du arbeitest an dir, wie ich an diesem Text. Lässt deine Schaffner*innen immer netter werden. Den Kaffee immer besser. Die Fenster immer sauberer. Zug, ich bin stolz auf dich.
Und wär nicht Pandemie, Zug, dann würde ich jetzt noch loben, wie du mich immer wieder aus meiner Komfort-Blase bringst. Wie du mich immer wieder neuen Menschen vorstellst, Bankern, Rentnerinnen, Assis, Tussis, Jurastudenten und Stewardessen, die ich ohne dich nie treffen würde. Gespräche, die ich sonst nie führen würde. Kaffeeeinladungen, die ich sonst nie annehmen würde. Aber, Zug, es ist Pandemie. Und so schreibe ich nur über die angenehme Ruhe irgendwo zwischen null Ablenkung und hundert Prozent Inspiration, die du so mit dir bringst. Abschalten. Nachdenken. Aufschreiben. In einem Nichtort wie dir. Ruckeln und Zuckeln. So einfach. So banal.