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Turbine Tübingen

»Uuuuund bitte!«. Der Zug hält, Ludwig steht mit Maske am Gleis 2, Bahnhof Tübingen. Kurze Umarmung, Smalltalk, Shoot! Raus aus dem Bahnhof. Bahnhofsvorplatz. Ich hechle einen halben Meter hinter Ludwig her. Hier rechts der Zinser, links Café irgendwas. Neckarbrücke, Neckarinsel, Postkartenansicht, Hölderlinturm. Mühlstraße, die heißt so, weil dort früher Mühlen standen. Eiskartell, Stiftskirche, Buchladen. Auf, ab. Zack, zack. »Noch zwei Minuten« sagt Ludwig und gibt nochmal alles. Rathaus, Stadtmuseum, Zuhause. Als wir ankommen, bin ich platt. So viel Energie schlug mir ja lange nicht entgegen.

Tübingen. Hier bin ich nicht zum ersten Mal. Im November 2019 besuchte ich meine Erasmus-Freundin Flo und war begeistert von der Stadt. Als mir mein Erasmus-Freund Ludwig für den März ein Zimmer in seiner WG anbietet, weiß ich zwar erstmal nicht mehr, warum ich das Städtchen so toll fand. Aber irgendwie stand der Punkt »in Tübingen wohnen« halt noch auf der Bucket-List. Und das wird ja da nicht ohne Grund stehen.

Stadt, unvergleichlich.

Tatsächlich bin ich ziemlich schnell wieder ziemlich auf dem Zenit meiner Begeisterung angekommen. Schon nach weniger als einer Woche muss sich Luise meine Lobreden auf das beschauliche Städtchen anhören. Und immer wieder: »Diese Power! Diese Energie! Das Leben, Luise! Das Leeeben!«. Beim Versuch eine passende Analogie zu der Studentenstadt zu finden, verende ich trotzdem kläglich irgendwo zwischen tanzender Omma, Cambridge und einem Start-Up Büro. Eine Stadt, keine Vergleiche.

Oma Tübingen

Einerseits ist die Stadt, guess what, sehr alt. Der lokale Buchladen, Osiander, arbeitet zum Beispiel seit mehr als 400 (!) Jahren an seiner Monopolstellung. Jede krumme Gasse, jede Kopfsteinpflaster-Spalte und jeder verwitterte Holzbalken einer Fachwerkhaus-Außenwand sagt: mein Haar ist grau, meine Zähne nicht echt. Die gesamte Altstadt, in der ich wohne, steht unter Denkmalschutz und mein März-Zuhause entstammt dem 15. Jahrhundert.

Doch der Omma-Teil meines auf dem Weg gestorbenen Vergleichs da oben tanzt ja anscheinend. Diese Attribut meiner Gegenüberstellung ist mir besonders peinlich, aber die Alternativen, turnen, hopsen und hüpfen noch viel schlimmer. Also tanzt sie. Und wie die tanzt. Eine erste Annahme mag Sie als Leser*in nun verständlicherweise dazu verleiten, an ein durch Alkohol verursachtes Tanzbein zu denken. Logisch, bei einer Stadt, in der 30.000 Studis auf 90.000 Einwohner*innen kommen, liegt das nahe. Studis feiern gern. Und können das auch gut. Doch tatsächlich hatte ich einen anderen Aspekt im Kopf. Wir erinnern uns: »Diese Power! Dieses Leeeben!«. Die Energie, die mir ja bereits am ersten Tag entgegen schlägt, kann man so gut wie gar nicht in Worte fassen. Tübingen, da bin ich mir sicher, ist 96-jährige Leistungsturnerin unter den Städten. Die Swing-Omi.

Wat is dat, dieset Modellprojekt?

In Tübingen steppt der Bär, wie man so schön sagt. Es ist Lockdown, aber Boris Palmer hat beschlossen, dass er das kacke findet. Und öffnet Kneipen und Theater mit einem riesigen Testkonzept. Zeitweise lasse ich mich fast jeden Tag testen. Die Tests sind kostenlos, eine Spendenbox steht unauffällig auf dem Tisch. Man stellt sich dann in eine Schlange, zeigt seinen Ausweis, kriegt eine Nummer, stellt sich wieder in eine Schlange, lässt einen Abstrich machen, wartet 15 Minuten und stellt sich wieder in eine Schlange, um das hoffentlich negative Testergebnis abzuholen. Auf diesem doch recht großen Lappen prangert dann der Name, das aktuelle Datum und eine Unterschrift von Dr. Kittel. Ich fühle mich wie Charlie Bucket, als er sein goldenes Ticket aus einer Wonka-Schokolade zieht, als mir mein baldiger neuer bester Freund mein erstes Tagesticket in die Hand drückt. »Bis morgen« entfleucht’s mir.

Mit Lappen Nummer eins geht’s ins Theater. Wir sind am allerersten Tag des Modellprojektes in der allerersten Vorstellung dieser allerersten, nennen wir es, Spielzeit. Wir sind im ITZ, dem »Institut für theatrale Zukunftsforschung«, wie sich das Zimmertheater vor ein paar Jahren umbenannt hat. Wie der Name für aufmerksame Leser*innen bereits vermuten lässt, dreht sich alles hier darum, Digitalität und Theater in Form eines sinnvollen Etwas voneinander profitieren zu lassen. Und damit den Internet-killed-the-Bühnen-Star-Gerüchten der Deutschen Theaterlandschaft entgegen zu treten. Es ist eines der ganz wenigen und garantiert das kleinste Theater seiner Art, das diesen Schwerpunkt wählte. Als wir nach der Vorstellung noch mit einer Zuschauerin auf der Terrasse einen Wein trinken, fühle ich mich so lebendig, wie lange nicht mehr. Über’s Stück reden. Mit einer fremden Person. Sowas tun Menschen.

Kneipe unser

Mit dem zweiten Lappen geht’s am nächsten Tag in, oh ja, die Kneipe. Der Spruch »man weiß erst, was man vermisst hat, wenn man es wieder hat« hält ja mal sowas von nicht, wenn’s um’s draußen-aus-Gläsern-Bier-Trinken geht. Oh, ich könnte Tiraden darüber schreiben, wie gut sich ein frisch Gezapftes doch anfühlt. Wie vollkommen! Oder wie es mein Kiez-und-Kneipe-Kollege Robert nach dem ersten Lockdown formulierte: »Tolles Konzept, diese Orte, an denen man Leute dafür bezahlt, dass sie einem ‘was Hopfiges an einen Tisch bringen«. Und die Schaumkrone!

tränen in den augen der biergartenden

Mittlerweile wurde das Modellprojekt übrigens wieder eingestampft. Die Hater sagen: »war ja klar, dass das schiefgeht« und berufen sich dabei meist auf die Wahrscheinlichkeit von falsch-negativen Tests. Gegenstimmen argumentieren, dass die Inzidenz genau so hochgegangen sei wie im Bundesdurchschnitt. In einer Studie der Unis Mainz, Tübingen und Southern Denmark wird geschrieben, dass so ein Projekt durch das vermehrte Testen sogar die Anzahl der Fälle hätte vermindern können. Asymptomatische Fälle könnten nämlich flächendeckender entdeckt und rechtzeitig in Quarantäne gesteckt werden.

Ich selbst verbringe den Monat noch in mehreren Kneipen, einem Biergarten, gehe shoppen und nochmal Theater gucken. Nach Woche drei verschwindet aber auch langsam der Reiz des Neuen, ich werde testfaul (»puh, man muss da schon 15 Minuten warten«) und trinke mein Bier wieder aus dem heimischen Kühlschrank. Ganz so natürlich fühlt sich das viele Testen und Anstehen dann eben doch noch nicht an. Eine gute Überbrückung bis zur tatsächlichen Öffnung und ein kleiner Blick in so-könnte-es-sein war’s trotzdem allemal. Und netter Nebeneffekt: wann immer Treffen unter Freunden stattfinden, gehört es mittlerweile fast zum guten Ton, vorher nochmal bei Dr. Kittel vorbeizuschneien, die Teststationen stehen ja immer noch. »Bis morgen dann!«.

modellprojekt in action

Volle Ladung Gehirn

Kommen wir also zum Cambridge-Part dieses obigen gewollt-aber-nicht-gekonnt-Konglomerats an Worten. Dieser bezieht sich auf, guess who, die Studis. Die sind nämlich, ach nee, anders als in Berlin. Tübingen als Studentenstadt verhält sich zu Berlin als »Studenten«-Stadt, wie Katniss Everdeen zu Barney Gumble. Nach Tübingen kommen die Leute für die Bildung, nach Berlin für, na ja, das wissen wir.

Schon während des Erasmus-Semesters hatte ich nach Ludwigs Erzählungen eine ganz genaue Vorstellung von Tü: eine Stadt voller interessierter, wissensdurstiger, unternehmungslustiger Menschen. So Leuten wie ihm halt. Leute, die am Wochenende wandern gehen, auf Skitour fahren, die Themenabende zu Ländern wie Lesotho veranstalten und einen simplen Bierabend dann als Verkostung ansetzen (warme Empfehlung: Goldochsen-Bier). Ich fühle mich wie eine unangenehme Mischung aus alt und langweilig, wenn ich an meine Berliner Zeit denke, die ich freizeittechnisch vor allem in Clubs und Kneipen verbracht habe. Hätte ich an einem Punkt einen Länderabend vorgeschlagen, wäre das wohl für die nächsten zweieinhalb Monate Thema jeden Witzes geworden. Nein, Berlin macht keine Länderabende. Berlin macht nur Kneipenabende. Oder Späti-Touren. Oder Ringbahnsaufen.

»Du bist halt nur zum Studium hier«, erklärt mein Mitbewohner Alix, als ich verwundert über die Abwesenheit der 18-Semester-Bachelor-Leute zeige, »wenn du dir mehr als drei Jahre Zeit lässt, sind alle deine Freunde wieder weg«. So käme es nämlich, dass selbst in den für ihren doch recht ausschweifenden Alkoholkonsum bekannten Studentenverbindungen, von denen Tübingen ja wirklich einige vorzuweisen hat, doch ein Mindestmaß an Einsatz und Entschlossenheit herrscht. So sei das bei eigentlich allen Studis. Und na ja, wer sein Studium mit Ernst und Elan angeht, der geht vielleicht auch seine Freizeit so an. Und guckt mal links und rechts, was man außer Kneipe noch so alles Geiles erleben kann. Klar, auch die Landschaft drumrum lädt mehr als dazu ein.

alix und ludwig auf dem österberg

Tübingen, Motor für Veränderung

Dieser Spirit ist es übrigens, der mich bei meinem ersten Besuch hier auch so krass in den Bann zog. Und womit wir beim letzten, dem Start-Up-Teil wären. Denn obwohl das Stadtbild an sich wohl eher in die Kategorie »verschlafene Kleinstadt« fällt, strotzt der Ort vor Ideen und Geschichten. Vom Eis-Kartell. Vom modernen ITZ-Theater. Von Menschen, die was machen. Die was bewirken. Die was verändern. Hinter all diesen Fachwerk-Fassaden vermutet man auf einmal riesige, lichtdurchflutete Büros mit Tischtennisplatten und endless Mate-Supply. Doch selbst das wär für Tü schon zu wenig gedacht.

schaufenster der mittelalterlichen hardware

Dieser Drang zum Neu-Denken und zum Neu-Machen. Dieses Ausprobieren-was-geht und diese einfach-machen-Mentalität schlägt mir hier wie eine meterhohe Welle auf irgendeiner Usedomer Seebrücke in Gesicht. Ob es eine so-noch-nicht-dagewesene Dönerbude (unbedingt hingehen: Neue Dönastie) oder ein Zukunftstheater ist. Ob jemand ein »Schaufenster der mittelalterlichen Hardware« oder einen Kartoffel-und-Messer-Laden errichtet. Ob’s das Stocherkahnrennen, die flächendeckende Spike-Ball-Begeisterung oder die tuepedia.de Website ist. In Tübingen sind die Leute jung, kreativ und schlau. Sie haben Ideen, sie wollen verändern, sie ruhen nicht aus. Fast hinter jede Ecke lauert irgendwo ein cooles Gadget, ein witziger Laden oder eine großartige Idee. In Tübingen sitzt ganz viel Motor. Tübingen dampft. Tübingen raucht. Unter dem Deckmantel einer süßen, süddeutschen Kleinstadt loten die Leute hier die Grenzen des Machbaren aus. Und machen einfach. Turbine Tübingen!

Du geile Stadt

»Wenn ich nochmal einen Bachelor machen würde«, versuche ich beim Familientelefonat den Teil meiner Verwandtschaft zu überzeugen, der das Studium noch vor sich hat, »dann hier«. Tübingen reißt dich mit, Tübingen macht was mit dir. Irgendwo zwischen Tanz-Omi, Cambridge und Start-Up. Diese Power, die Energie, das Leeeben! Und von der Landschaft ganz zu schweigen.

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Ein Kommentar

  1. […] Partys mit Fremden und man spricht über seine Fakultät. Nach Zwölfmaldeutschland weiß ich: Studentenstadt, das heißt sowas wie Tübingen: viele junge Leute, die etwas bewegen wollen. Die Ideen haben. Anpacken. Und die die Stadt nach […]

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