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Der Gast oder wie ein Fremder in die Wohnung kam

Mein Wecker klingelt und ich freue mich, dass Freitag ist. Zwar hatte ich mich schon bei meinem nächtlichen Spaziergang auf die Toilette darüber gewundert, dass sowohl im Ess- als auch im Wohnzimmer meiner Trierer WG noch Licht an ist. Hatte nicht Cenin, die alte Eule, in der letzten Woche erfolgreich geschafft, seinen Rhythmus in Richtung »normal« zu biegen und vor um zwei ins Bett zu gehen? Einen Gast erwarte ich heute eigentlich nicht. Egal. Freitag.

Nun sitze ich wieder auf dem Klo und krümele meine Augen auseinander. Die Sonne »geht gerade auf« aka. die Wolken werden ein bisschen weniger grau. Ich nehme die ersten Geräusche in der noch ruhigen Wohnung wahr: der Kühlschrank surrt, die Waschmaschine blinkt, ein Schnarchen. Ein Schnarchen? Ein Schnarchen. Ein ausgereiftes, tiefes und fast ein bisschen ungesundes Schnarchen. Wie dünn die Wände sein müssen und dass das Schnarchen wirklich ganz schön laut sein muss, wenn ich es von einem unserer Nachbarn höre. Wo der denn wohl sein Schlafzimmer hat? Komisch, dass ich das sonst noch nie gehört habe.

Ich gehe in den zweiten Teil meiner morgendlichen Routine über und koche einen Tee. Esszimmer und Küche grenzen hier ohne Tür direkt aneinander. Ich habe vom Wasserkocher aus also einen perfekten Blick auf den Esstisch samt Stühlen. Und da entdecke ich ihn. Den Schnarcher. Liegt er da auf zwei Stühlen. Weißes Hemd, graue Stoffhose, keine Schuhe mehr an (was hier zugegeben auch eher ungewöhnlich ist). Und schnarcht. Tief. Und fest. Ich lache. Sammle mich. Und trinke erstmal meinen Tee. Das am frühen Morgen.

Was zur?

Wer ist das? Warum liegt er da? Wie ist er hier reingekommen? Und wer zur Hölle ist das? Es gibt, vorsichtig formuliert, die ein oder andere Frage in meinem Kopf.

Die Wohnungstür, so muss man wissen, ist nie wirklich geschlossen. Das heißt, sie ist schon manchmal zu. Außen steckt allerdings immer ein Schlüssel, da sich die Wohnung über die ganze Etage erstreckt und das Wohnzimmer sowie beide Zimmer meiner Mitbewohner nur über den, ja, richtig, Hausflur zu erreichen sind. Bis jetzt hatte mich das nie wirklich gestört, im Gegenteil, es gab mir eher das Gefühl einer ziemlich heimeligen und vertrauten Atmosphäre. Aber das hab ich nun davon. Leute, die hier auf den Stühlen schlafen. Fein.

Das ungeübte Auge sieht hier einen Tisch mit Stühlen. Nur Expert*innen können darin die feine Übernachtungsmöglichkeit erkennen.

Zweiter Versuch

Es ist einen Tee später. Vielleicht kenne ich ja die Person und sie gehört zu uns? Ich meine, wenn ich mich schon schlafen lege, warum dann eigentlich auf zwei Stühle? Gerade, weil wir doch im anderen Zimmer eine Couch haben. Ich wage einen Annäherungsversuch. Der Mensch hat sich bereits einmal schon unter Stöhnen gewendet und liegt nun mit dem Kopf in Richtung der Stuhllehnen. Ich beuge mich über ihn. Und breche Versuch Nummer zwei ab. »Sieht doch eigentlich ok aus« rechtfertige ich das vor mir selbst und radiere die Überlegung, dem Gast mein Bett anzubieten, sofort wieder aus meinem Kopf. Jetzt erstmal einen Kaffee. Und eigentlich muss ich ja auch arbeiten.

Also akzeptiere ich das Schnarchen von unserem Gast in meinem Hintergrund, das ich wirklich immer noch durch zwei Räume (ja, ohne Türen, aber trotzdem) höre. Ich denke gelegentlich drüber nach, dem Menschen eine Decke zu bringen. Verwerfe den Gedanken aber immer wieder, weil »meine Arbeit auch echt gerade wichtig ist«. So wird das nie was mit Menschheit retten.

Irgendwann dann höre ich es wieder undefiniert krachen, stöhnen und ruckeln im Esszimmer. Die Badtür geht auf. »Oh, good call, da muss ich wohl auch gleich noch vor unserem Stand-Up hin«. Es ist 10:15 Uhr. 10:30 Uhr sitze ich immer mit meinem dritten Heißgetränk vor meinem Laptop und treffe meine Teamkolleg*innen.

Schnell also noch ins Bad. Unser Gast scheint gegangen zu sein, auch wenn ich das irgendwie verpasst habe. Die Stühle jedenfalls sind leer. Frage mich, wo er hin ist, so ohne Schuhe. Bin aber auch nicht hinreichend an weiteren Nachforschungen interessiert. Ich öffne die Badtür. Und mache sie im Prinzip sofort wieder zu. Irgendwie gab es dort unten einen haarigen Widerstand. Ich öffne nochmal, diesmal langsamer. Und gucke auf den Fußboden. Dort entdecke ich ihn, den Gast. Er ist doch nicht gegangen. Nein, liegt er halt da in unserem 3m² Bad (rechts). Zugedeckt mit Cenins Handtuch. »Na, huch!« Es stöhnt mir ein zerknirschtes »mmmorjen« entgegen. Zwei wirklich sehr rote Augen versuchen mich zu fixieren und geben direkt wieder auf. »Was machst du denn hier?« – »Mjoschlafehier«. Alles klar. Jetzt ist Handeln gefragt. Jetzt kann ich mir endlich zeigen, was ich in meinen Berliner Jahren über verkaterte Menschen gelernt habe.

Umlagern

»Na komm«, starte ich meinen Versuch mit engelsweicher Stimme. Hier sei es doch gar nicht so bequem. Und ob er denn nicht wissen, dass es eine super bequeme, tolle Couch gebe. Eine perfekte Gast-Couch. Wie er denn überhaupt heiße? »Mioaukhhh«.

Ich akzeptiere, dass noch keine Konversation möglich ist. Jedenfalls von seiner Seite aus. Von mir hingegen ist Einsatz gefragt. Weiterreden. Nicht wieder einschlafen lassen. Bloß nicht aufhören zu reden und wenn’s das Letzte ist, was ich tue. Er hört mich schon sehr gut, wenn er überhaupt einen Laut herausgebracht hat. Also gilt es jetzt nur noch, den Reiz irgendwie auf die Muskeln zu übertragen. Ich gebe alles. »Drüben hast du auch eine Decke«. Keine Bewegung. »Und es gibt ein Kissen«. Nichts. »Außerdem muss ich ziemlich doll aufs Klo und leider liegst du davor und wenn du jetzt nicht aufstehst musst du leider dabei sein, obwohl wir uns gar nicht kennen.« Die zwei roten Augen sind zurück. Und auf einmal bewegen sich auf die Gliedmaßen.

Ich helfe dem Menschen auf, bringe kurz vor knapp die tapsende, an sich noch schlafende Muskelmasse über den Hausflur ins Wohnzimmer und platziere sie auf der Couch. Decke. Kopfkissen. Wie versprochen. Licht aus. Schon wieder.

Auflösung

Cenin ist wach und fragt, ob Mike noch da sei. Aha. Doch nicht Mioaukhhh. Mike. Toll. Er hat einen Namen. »Ähm, joa, der ist noch hier und seit ’ner halben Stunde sogar auf der Couch« – »Gut. Der war gestern ganz schön betrunken« – »Sag bloß«.

Was passiert ist? Cenin hatte einen Gast. Zwar nicht von Mike, aber den hat er dann auf dem Nachhauseweg getroffen oder eher aufgegabelt, als er seinen Besuch weggebracht hat. Von weitem erspäht und in herzallerliebster Cenin-Manier entschieden, dass dieser Mensch wohl umgehend einen sicheren Schlafplatz braucht. »Weißt du Nelli, es gibt ja so Kinder, die immer alle Tiere mit nach Hause nehmen, denen was fehlt. Flügel gebrochen, Zehe verstaucht. Ich mach‘ das halt mit Menschen.«

Klar, denke ich, du bist halt auch ein guter Mensch. Eine Situation, an die ich denken werde, wenn ich das nächste Mal überlege, ob ich jemandem eine Decke bringe.

There’s a lot to learn.

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