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Ich kann nicht mehr

Ich bin alle. Fertig. Kaputt. Ich habe nichtmal mehr Lust, hier noch ein Bild einzufügen. Von was auch? Nach meiner sechsten Station und damit der Hälfte des Projekts spiele ich das erste Mal mit dem Gedanken, abzubrechen. Die erste Hälfte des unteren Textes entstammt genau dieser Phase.

Jetzt ist April und ich habe mich einen Monat lang beruhigt. Ergebnis: durchziehen. Eine Gegenüberstellung von zwei Geisteszuständen.

März

Ich bin ausgelaugt. Müde. Busy. Tod. Ich kann und will mir nichts mehr merken. Mein Kopf ist voll mit einem halben Jahr Stadtkarten, Straßenecken und Dönerläden. Ich laufe über. Voller Lebensgeschichten, Studiengänge und Meinungen. Jede Zelle speichert Onkels und Tanten, Lieblingsfilme, Vorlieben und Musikgeschmäcker. Fremde Träume, verstorbene Omas und Ex-Freund*innen. Mein Gehirn fühlt sich an wie das, was unsere Katze Luzifer auskotzte, nachdem sie sich acht Stunden lang genüsslich über’s Fell geleckt hatte.

Ich bin ein Arschloch. Lebe hier mein Leben und mache etwas, von dem andere nur träumen können und beschwere mich dann, weil ich ein Weichei bin. Und dumm obendrein. »It’s not rocket science« hat mal ein Praktikums-Betreuer zu mir gesagt. Wenn das für Java gilt, dann sicher auch für’s Reisen. »Kreativstau« hat meine Kunstlehrerin immer gesagt. Ich weiß auch gar nicht mehr, was ich noch schreiben soll voller Müdigkeit.

Doch noch was. Ich bin genervt. Nicht nur von mir, aber eigentlich doch nur von mir. Nach sechs Monaten hat sich eine eigenartige Smalltalk-und-Kennenlern-Routine eingestellt. Ich muss irgendwie kaschieren, dass ich mir nichts mehr merken kann. Stelle deshalb viele Fragen. Kann mir dann aber auch Antwort nicht merken. Und auch nicht, welche Frage ich schon gestellt habe. Stelle dann oft dieselben Fragen. Peinlich. Und: nervig. Denn zu allem Überfluss wird dieses Nachfragen oft als übersteigertes Interesse gewertet. Werde dann oft zumonologisiert. Spiele oft mit dem Gedanken, »ES INTERESSIERT MICH NICHT« zu schreien. Entscheide mich dann aber wegen Gesellschaftsnormen für den weiteren Verbleib im Teufelskreis. Ich weiß nicht mehr, was ich noch schreiben soll.

Zuletzt: entdecke ich meine menschenhassende Ader. Was für ’ne Scheiße. Normalerweise bin ich eine Bilderbuch-Philanthropin. Ich mag Euch! Aber je mehr Leute mir ungefragt (das ist klar gelogen, ich habe immer gefragt) ihre »einzigartige« Lebensgeschichte ins Gehirn donnern, desto mehr Gewaltfantasien bekomme ich. »DU BIST NICHT EINZIGARTIG. NIEMAND IST EINZIGARTIG« brüllt mein Gehirn. Bin dann wieder genervt von mir. Und weiß dann auch wieder nicht, was ich schreiben soll, vor lauter Gleichheit.

Ein Tunnel am Ende des Lichts

Bei Luise wird nun gottseidank ab Mai ein Zimmer frei. Vielleicht mache ich das. Abbrechen. Interessiert doch eh keinen Lauch. Und bringen tut’s eh niemandem was. Und überhaupt: zwingt mich ja niemand. Außer meine komplett übertriebene Sturheit natürlich. Was heißt denn Freiheit? Vielleicht ja auch mal, seine eigenen Pläne über den Haufen zu werfen! Als ob hier je ein Buch draus würde. Sowas verlegt doch keiner.

»Nee« sagt Anne. »Das kannst du nicht machen«. Das würde ich mir nie verzeihen. Ich soll mal ein bisschen warten und dann sähe die Welt auch wieder ganz anders aus. Die hat gut lachen, denke ich mir. Als Ludwig mir in den ersten zwei Tagen von 12 unterschiedlichen, wichtigen Leuten in seinem Leben erzählt, ist mein Gehirn kurz vor Kernschmelze. Ludwig möchte testen, wie viel er da noch reinquetschen kann und ballert mich zusätzlich mit Tübingen-Informationen zu. »Und heute Abend habe ich uns bei Chris angemeldet. 6er WG«. Ich will weinen. Ernstes-Wort-Zeit.

»Ludwig«. Meine Unterarme liegen auf dem Küchentisch, mein Kinn ist gesenkt, ich starre ihn an. Meine Augenringe müssten jetzt ungefähr die Tischplatte erreicht haben. Er lächelt zurück. Ludwig lächelt immer, wenn er nicht gerade nachdenkt. »Ich kann nicht mehr, zu viel«. Ludwig denkt nach. »Mach dir mal wegen heute Abend keine Sorgen, das wird gut, versprochen«. »Und bei Luise einziehen?« – »Kennst du Qualia-Tourismus?«. Natürlich wird der Abend gut.

Qualia-Tourismus

Im einzig wahren Urban Dictionary steht unter qualia: »Parts of experiential knowledge, i.e., that which can only be known through experience.« Übersetzt: eine Qualia ist eine Erfahrungen, die wir machen, um die Erfahrung gemacht zu haben. Und Qualia-Tourismus sei nun also das größere, auf Tourismus im weitesten Sinn gehobene Konzept dahinter. Also zum Beispiel als Mann einen Rock tragen, um zu wissen wie es ist. Oder Lebertran trinken, um zu wissen wie es ist. »Dass wa mitreden könn’« würde Mama sagen.

Ein aalglattes Beispiel von Qualia-Tourismus wäre nun eben auch, »wie ich in 12 Städten in Deutschland wohnte, aber auf sechs eigentlich gar keinen Bock mehr hatte«. Großartig. Dann eben so. Dann habe ich halt sechs Monate lang keine Lust mehr. Ich hatte noch nie in meinem Leben sechs Monate lang keine Lust auf etwas und irgendwie löst die Aussicht darauf irgendeinen Knoten in meinem Kopf. Ich bin überzeugt. Und sammle trotzdem erstmal Kraft in Tü.

April

»Und, wie geht’s dir?« fragt Hannes. Letzter Morgen. In zwei Stunden geht mein Zug nach Freiburg. »Gut«, bin ich selber überrascht, »gar kein Kater!«. »Gut, aber ich meinte eher so reisetechnisch«. Ach so. Stimmt ja. Auch gut, denke ich und bin nochmal erstaunt. Wollte ich nicht noch vor einem Monat abbrechen? Wollte ich nicht noch vor zwei Wochen am liebsten die restlichen fünf Monate in Tübingen verbringen? Hatte ich nicht zwischendurch mal wieder vergessen, dass ich hier eigentlich mitten in einem Projekt bin… Sogar auf einer Reise?

Schon. Und jetzt bin ich bereit zu gehen. Nicht weil ich muss, sondern weil ich will. Und: weil ich wieder kann. Ein Monat mit einem alten Freund als Mitbewohner tat tatsächlich ziemlich gut. Endlich mal nicht missverstanden werden. Mal über die Vergangenheit reden. Gemeinsame Freunde haben. Und: sich endlich mal nicht vorstellen müssen. In Erinnerungen schwelgen. Nicht komplett fremd sein. Gemeinsame Hobbys haben. Sich nicht kennen lernen müssen. Witze machen. Den Musikgeschmack kennen. Sich kennen. Ein Traum.

Am Ende war ich 10 Tage länger in Tübingen, als geplant. Das war wichtig. Und tat gut. Doch wenn ich jetzt noch länger bleiben würde, ginge auch der Reiz verloren, denke ich. Dann wäre nicht mehr jeder Moment etwas besonderes. Dann würde aus einem Erkunden und Kennenlernen schnell ein Leben und daraus ein Alltag werden. Und jetzt? Habe ich alles gesagt, was ich sagen wollte. Alles getan, was ich tun wollte. Nur so viel, dass Mama noch sagen kann »es muss ja auch noch einen Grund zum Wiederkommen geben«. Den gibt’s natürlich. Aber jetzt bin ich erstmal fertig.

Tübingen war die vielleicht schönste Station bisher. Das macht mir Sorgen für die nächsten Stationen. Und bestätigt meine Arbeitsthese: am Ende kommt es immer auf die Menschen an. Ziehe ich daraus einen Schluss? Sollte ich doch mehr Freunde besuchen? Oder mehr alleine sein?

Ein Kommentar

  1. Martin Langer Martin Langer

    „Ziehe ich daraus einen Schluss? Sollte ich doch mehr Freunde besuchen? Oder mehr alleine sein?“

    Freundschaften wollen gepflegt werden, insofern definitiv ersteres und nicht letzteres!

    Und ja, auch Freunde können einem manchmal tierisch auf den Senkel gehen…
    Aber wenn ich jemandem schon seit der Grundschule kenne… dann halt ich das aus 😉

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