»Und du brauchst Lawinenausrüstung« sagt Ludwig und steckt sich ein Stück Ritter Sport Alpenmilch in den Mund. Mir fällt die Kinnlade aus dem Gesicht. »Ich brauche was!?«. Ludwig guckt mich an wie ’n Auto. »Na, Lawinenausrüstung« erklärt er mir mit der Selbstverständlichkeit, als hätte ich gefragt, ob er als Kind in Emma Watson verliebt war. »Peilsender, Sonde und Schaufel, falls jemand verschüttet wird.« Es geht auf Skitour.
Immer, wenn ich etwas zum ersten Mal mache, und das passiert dank dieser Reise und auch besonders hier in Tübingen ja schon auch oft, bin ich im erstmal verdutzt, was für eine Welt sich dahinter verbirgt. Ich-habe-eine-blaue-Telefonzelle-in-meinem-Wohnzimmer-Fans würden lachen und sagen: »it’s bigger on the inside!«. Und indeed! It’s ja mal sowas von bigger on the inside. Da denkste: Berg hochlaufen, runterfahren. Und dann musste dich mit der Lawinenlage im Allgäu auseinandersetzen und verschiedene Schneewehen-Arten lernen. Doch von vorn.
Das Wort »Skitour«
Tübingen Tag #1: Zeige-Ludwig zeigt mir die Stadt. Nebenbei erzählt er von seinem neuen WhatsApp-Profilbild, das bei der Skitour letztes entstanden sei. »Skitour«, denke ich, »was für ein weirder, süddeutscher Begriff für Skifahren«. Es stellt sich raus: fast richtig. Skitouren heißt nämlich, Berg hochlaufen und runterfahren. Ich frage mich, warum man nicht einfach »Skifahren ohne Lift« sagt.
Da meldet sich meine innere Linguistin. Ein neues Wort! Supi! Und das Wort hat Eigenschaften. Es ist, Trommelwirbel, flektierbar – cool! Das heißt, man kann es beugen. Nach links. Und nach rechts. Statt ich war noch nie auf Skitour, was ja einfach ein aus Ski und Tour zusammengesetztes Substantiv, äh, Dingwort sein könnte, sagt man ich bin noch nie geskitourt und hat damit aus diesem vermeintlich erfundenen Substantiv schon ein Verb gemacht, was viel krasser ist. Ebenso, wie man ja auch schonmal langlaufen war und nicht auf Langlauf. Wird davon mein Bier billiger? Nein! Aber es offenbart, dass sich Ludwig und alle anderen Berg-Heinis dieses Wort nicht erst gestern ausgedacht haben und dass sie es hinreichend oft nutzen, um damit sogar ins nächste Level, das Tu-Wort-Level, aufzusteigen. Und das heißt, dass sich hinter diesem Zeug vielleicht doch mehr als »Skifahren ohne Lift« versteckt. Ich bin vorgewarnt.
Wie geht Skitour?
Ich dachte immer, wenn Leute den Berg hochlaufen, um ihn wieder runterzufahren, machen sie das erstens, nur weil der Lift kaputt ist und zweitens, mit Skiern auf den Schultern. Wie soll das auch sonst funktionieren? Einfache Frage, einfache Antwort: mit Fellen an den Skiern. Und Skiern am Fuß. Und Klamotten im Rucksack.
Die Felle haben an der Unterseite eine ultra starke Klebefläche, die damit stärker am Ski haften, als diese Grundschul-guck-mal-die-sind-echt-mega-stark-aua-meine-Lippe-Magneten aneinander. Am Ski-Heck und -Bug werden sie zusätzlich eingehängt und halten damit wirklich bombenfest. Und tatsächlich: durch die Felle rutscht man nicht rückwärts runter, so richtig dran geglaubt habe ich ja nicht.
Klamotten im Rucksack versteht sich übrigens nicht so von selbst, wie das eine süddeutsche Person wohl vermuten würde. Als mein Papa an Tag drei unseres Winterurlaubs einmal mit Kreuz- und Schulterbänderriss in den Klinken Hochrum bei Innsbruck lag (»Die Schwarze schaffen wir noch!«), probierten Mama, ihrerseits auch schon von zwei Kreuzbandrissen gesegnet, und ich uns erstmalig am Langlauf. Noch nie gemacht. Keine von uns. Wie anders kann’s schon sein? Also: Skiunterwäsche an, Skiklamotten drüber und mit Langlaufskiern in die Loipe. Wie anders kann’s schon sein? Wir waren keine 100 Meter gekommen, als uns ein Mann auf dieser 2km-Runde bereits zum vierten Mal »überholte« (kann man stehende Gefährte überholen?) und wir komplett durchgeschwitzt und kurz vor Kreislaufkollaps abbrachen. Nie wieder Langlauf, dachte ich.
Ein LLB ist kein Master in Jura
Deshalb also Skitour. Doch vorher: Lawinen üben. Ich leihe mir Skier, Schuhe, Schaufel, Sonde (ein Dinge zum im-Schnee-Stochern, falls man einen Menschen darunter vermutet; erinnert mich wegen seiner Zeltstangen-Ähnlichkeit eher an Festivals, als an Berge) und Lawinenverschüttetensuchgerät (kurz: LVS) aus und bekomme vom Barfußschuhe-Peter des Tübinger Globetrotter-Flagship-Store-Pendants »Biwakschachtel« noch das passende Lawinen-Info-Heft »Safety Academy« dazu. Wie und warum entstehen Lawinen? Wie plane ich meine Tour? Was sind Verhaltensregeln, Alarmzeichen und ein LLB, Lawinenlagebericht? Und: Menschen finden und erste Hilfe leisten. Uh! »Ich habe Angst«, sage ich zu Lawinen-Ludwig. »Das ist gut«, antwortet er ohne den Hauch einer Beschwichtigung. Ich beschließe, dass Mama erst vom LVS-Gerät erfährt, wenn wir wieder unten sind.
Und tatsächlich: entgegen aller Erwartungen und nach fünf von Adrenalin gezeichneten Stunden sind wir, Fabi, Jessi, Ludwig und sogar ich, wieder unten. Die erste Hälfte verläuft ohne Probleme. Ludwig wird später sagen, das hätte er so geplant: schön Piste laufen, weitestgehend geradeaus, moderate Steigung. Dann, so Berg-Ludwig, könne ich erstmal reinkommen und mich dann in der zweiten Hälfte »nochmal fordern«… ?!???!?!?!?! ALTER! Es geht mir hier um’s blanke Überleben!
»Fordern« sieht dann folgendermaßen aus: Tiefschnee, heftige Steigung und Ludwigs wirklich einzigartige Beruhigungstechniken (»wer in der ersten Spitzkehre nicht fällt, macht auch irgendwas falsch!«). Die Spitzkehre, liebe Leserinnen und liebe Leser, ist mein persönlicher Endgegner. Es ist die Technik, die man anwendet, um mit den langen Skiern um eine, der Name verrät es, sehr spitze Kurve zu kommen. Sie erfordert neben einem ruhigen Puls und hoher Konzentration auch die Fähigkeit zur Standwaage, das Einschätzen der »dich haltenden« Schneemassen unter deinem Fuß und das genaue Kontrollieren der Bewegungsrichtung des freischwingenden Skis. Und: viel, viel Schokolade. Zucker senkt ja bekanntlich den Adrenalinspiegel.
Und oben ’ne Quattro-Formaggi
Als wir, also ich, mit Wackelpudding-Beinen am Gipfel ankommen, ist das ein Glücksgefühl, das ich zum letzten Mal bei der Maueröffnung gespürt habe. Ja, gut, also wie ich mir vorstelle, dass es meine Eltern gespürt haben. Trotzdem: stolz wie Bolle und fertiger als nach einem Halbmarathon schmeckt auch das halb zu trockene, halb gefrorene Brot wie die erste Quattro-Formaggi, die je ein Mensch gegessen hat. Felle ab, Klamotten an und dann den steilsten Berg der Welt durch den Tiefschnee zurück. »Umspringen!« ruft mir Skifahr-Ludwig zu, als ich im Fahrstil einer 80-Jährigen die »Piste« in großen Kurven ausmesse. »Geht nicht!« rufe ich zurück. Und das nichtmal wegen mangelhafter Technik – meine Eltern schubsten mich mit Vier das erste Mal vom Fichtelberg. Sondern einfach, weil es physisch nicht geht. Weil meine Muskeln zu Ende sind. Finito. Aus.
Als wir die Skier unten abschnallen, bin ich fertig mit der Welt. Fertig und glücklich. Dass wir die Lawinenausrüstung zwar dabei hatten, aber nicht gebraucht haben. Dass mein Körper und dessen Adrenalin-Produktion noch funktioniert – in Zeiten des Lockdowns können da schon einmal Zweifel auftreten. Und besonders, ja ich weiß, das ist pathetisch, dass wir alle noch leben.
Als wir am Abend wieder bei Ludwigs Eltern ankommen, bin ich platter als platt. Zum Essen gibt es Kohlenhydrate mit Kohlenhydraten. Am nächsten Morgen sagt Schlaf-Ludwig, dass sich sein Bett noch nie so weich wie gestern angefühlt hat. »Indeed«, denke ich, »it’s bigger on the inside…«.
[…] unternehmungslustiger Menschen. So Leuten wie ihm halt. Leute, die am Wochenende wandern gehen, auf Skitour fahren, die Themenabende zu Ländern wie Lesotho veranstalten und einen simplen Bierabend dann als […]